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Gründe der Auswanderungen im 19. Jahrhundert in Wy

Josef Seiter, Wyhl

Nach der großen Begeisterung der Freiheitskriege 1813/15 folgte im Volk eine Ernüchterung und Enttäuschung. Was die Französische Revolution (1789) mit den Thesen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ teilweise mit brutaler Gewalt an sozialen Errungenschaften gezeigt hatte, wollte man bei uns nach dem Willen der Staatsmänner Stein, Hardenberg, Nebenius und Anderen, mehr auf den Weg der Gesetzesform, d. h. verfassungsmäßig verwirklichen; man wollte wie Justus Moser und besonders wie Johann Gottfried Herder als geistige Überwinder der Aufklärung, Fortentwicklung auf allen Gebieten des menschlichen Lebens, aber keineswegs eine Revolution.
Aber auch die auf legalem Weg angestrebten Veränderungen stießen auf den Widerstand der regierenden Fürsten. Die Träger freiheitlichen Gedankenguts wurden gemaßregelt und geächtet. Letzter Ausweg war oft nur die Flucht nach Amerika, dem Land der Freiheit und der Menschenrechte! Das war die politische Situation dieser Zeit.
In Wyhl aber waren es vorwiegend wirtschaftliche Gründe, die im Frühjahr 1817 zur ersten Massenauswanderung nach den USA führten. Die Missernten der Jahre 1807/1811 und schließlich die Hochwasserkatastrophe des Jahres 1816, in dem der ganze Sommer verregnet und kalt, ja sogar mit Schnee und Reif vermischt war, gaben den Ausschlag. 1816 war das Getreide zur sonst üblichen Erntezeit noch völlig unreif. Von August bis Dezember gab es Frost und Schneefall und das ganze Feld (ca. 1000 ha.) war noch unmittelbar vor der hiesigen „Chilbi“ (Kirchweih am 3. Sonntag im Oktober) „Zwei Schuh hoch mit Schnee bedeckt“. Am ganzen Kaiserstuhl waren die Trauben durch den frühen Frost erfroren. Zwischen Weihnachten und Neujahr, als das Wetter es einigermaßen zuließ, hatte man endlich an einem einzigen Tag das schlecht geratene und völlig nasse Getreide in die Scheunen fahren können. Die äußerst geringe Ernte an Körnerfrucht gab dann auch bei den wohlhabenden Bauern ein schlechtes Dreschergebnis; in kaum mehr als einem Sester (= ca. 20 Pfund) konnte man die ganze Ernte fassen. Die übrigen Feldfrüchte waren bis zum Februar 1817 unter der Schneedecke erstickt und verfault.
Die Kartoffelernte blieb durch das schlechte Wetter ganz aus. Infolge dessen setzte im ganzen Breisgau eine große Teuerung ein. Es ist für uns heute kaum nachvollziehbar, dass Menschen unter diesen Umständen überleben konnten.
Hatte man noch im Jahre 1802 für das Pfund Speck 12 Kreuzer bezahlt, so kostete es jetzt 1 Gulden (= 60 Kreuzer). Während noch 1816 ein Sester besserer Weizen 2 Gulden, geringere Qualität Weizen 1 Gulden und 45 Kreuzer, Gerste 55 Kreuzer, Hafer 36 Kreuzer gekostet hatte, so betrug nun im Frühjahr 1817 der Preis für ein Sester Weizen schon 8 Gulden - also das Vierfache!
Ein Sester Gerste kostete jetzt 5 Gulden und 30 Kreuzer, Hafer 2 Gulden und 48 Kreuzer. Unter dem Betrag von 2 Gulden erhielt man keine Butter mehr; für einen Laib Schwarzbrot geringerer Qualität von einem Pfund und 5 Lot (1 Lot sind ca. 17,5 Gramm), der bisher 6 Kreuzer gekostet hatte, zahlte man jetzt bis zu einem Floriner Gulden. Solche Preise waren für die ärmere Bevölkerung unerschwinglich.
Ein anderes Übel verschlimmerte noch die Notlage. Es zeigte sich bald, dass die hiesigen Hauswebereien, von denen es 1810 noch 20 hier gab, nach und nach große Konkurrenz bekamen. So gerieten die Hauswebereien, in denen jeweils die ganze Familie mitarbeitete, unter großen Druck, denn den nach und nach im badischen Wiesental entstandenen Großwebereien, in denen seit 1844 mit mechanischen Webstühlen gearbeitet wurde, waren unsere Familienbetriebe keineswegs gewachsen.
Konnte doch eine dieser modernen Maschinen, die von nur einem Arbeiter bedient wurde, 15 bis 20 Fäden nebeneinander spinnen, und so das 15 bis
20-fache dessen leisten, was eine ganze Hausweberei zu leisten im Stande war. Außerdem lief der neue Webstuhl 7 mal schneller als die hier gebräuchlichen Webstühle.
Die ab 1811 aufgelöste Zunftordnung der Weber, zugunsten einer völligen Gewerbefreiheit, gab den Webern den Rest.
Trotz größtem Arbeitseifer der Weber unter Miteinbeziehung der ganzen Familie, bei flackerndem Licht einer übel riechenden „Ölfunzel“ in den oft zu engen Stuben, oft auch von Krankheit, schwindsüchtigem Husten geplagt, konnten sie sich nicht mehr gegen die übermächtige Konkurrenz erwehren.
Immer mehr Kunden kauften statt des teuren aber haltbareren Hanfhechelgarns für Bettwäsche, Handtücher, Bauernhemden aus der dafür bestens geeigneten Hanf-Pflanze den weit billigeren, nicht so haltbaren glänzend appretierten weißen und gestreiften Flachsgarnstoff der fliegenden Händler oder hiesigen Krämer. Die Leute wurden angesichts des reichhaltigen Angebotes immer wählerischer und verwöhnter.
Dem Weber blieb mit seiner kinderreichen Familie nur Verbitterung und Elend, Bettel und Armenfürsorge.
Pfarramt und Gemeindeverwaltung nutzten jede sich bietende Gelegenheit, um den arbeitslosen Webern andere Lohnaufträge in Heimarbeit zu verschaffen. Da waren die Leute recht froh, wenn sie für Firmen in Endingen, Herbolzheim oder Kenzingen, wenn auch bei geringem Lohn, „Knöpfle“ oder „Häftle“ auf Karton aufnähen durften zum Verkauf in den Läden.
An den Wegrändern suchten fleißige Mütter mit ihren Kindern den harten und ruchen Ackerschachtelhalm, auch Schapf oder Kesselkraut genannt. Auf kurzem Schwarzdornstiel zu Büschelchen aufgebunden diente er als „Rieberli“, mit dem man Kupferkessel und Pfannen blitzblank scheuern konnte und deshalb in den Haushaltungen der Bauern und der nahen Stadt Endingen gern und billig gekauft wurde.
Doch all diese kümmerlichen Beschäftigungen mit geringem Verdienst konnte die Not der Weber nicht bannen. Wohl schenkten die Altwasser des Rheins Weißfische, Hechte, Aale, Forellen. Besonders nach einem Hochwasser wimmelte es in den Tümpeln von Fischen, ganz mühelos zu fangen und viele hungrige Mäuler damit zu stopfen. Doch wehe denen, die beim Reusefang in den Nebenarmen oder im offenen Strom dem Endinger Waldknecht in die Hände fielen.
Aber nicht immer gab es diese billige Gottesgabe. Auch nur im Frühjahr gab es an den Wegrändern und auf Matten Löwenzahn, mit dem man ein nahrhaftes Gemüse zubereiten konnte.
Daher zogen hiesige, arme Weber und Tagelöhnerkinder wie die Kinder anderer Orte auch über Land und von Hof zu Hof, um gegen ein „anständig Vaterunser auf der Türschwelle“ ein Möggeli (Stück) oder eine Rämpfede (Brotrinde) Brot zu erbetteln.
Bauer Mamier am Wegkreuz - beim Kreuz im Oberdorf - hatte in seinem stattlichen Bauernhaus alleweil für die Hungernden ein gutes Herz und eine offene Hand. Und wenn so ein armes Kind in seinem Hof um Nahrung bat, schlug er voll Mitleid die Hände zusammen und pflegte zu seiner Familie zu sagen: „Mein Gott! Mein Gott! - gän doch dene arme Lütt e wenig Gerstebrei oder a paar Härtapfel (Kartoffeln), dass sie nit no verhungere!“ Seither nannte man ihn nur noch den „Mein Gott“, und das geschah nicht in böser Absicht.
An manchen Haustüren aber gab es für die armen Leute nicht mal eine Rämpfede (= Brotrinde), sondern Schimpfworte, Flüche oder gar eine kräftige „Däsche“ (Ohrfeige).
Die Anfälligkeit für allerlei Krankheiten wie Ruhr, Fieber, Lungenschwindsucht waren die Folge dieser Hungersnot.
Im Jahre 1818 hatte Wyhl 1.300 Einwohner. In diesem Jahr standen hier 51 Geburten genau 51 Sterbefälle gegenüber; darunter befanden sich 37 Kinder.
In der größten Not beteten die Wyhler unablässig zum Herrgott. „Unser täglich Brot gib uns heute“. In vielen Häusern wurde abends der „Nischder“ (Rosenkranz) unterm Bild der schmerzhaften Muttergottes genommen und die Litanei mit einer sonst seltenen Inbrunst gebetet. Man erbat sich Hilfe vom Allerhöchsten, Trost und Kraft für den weiteren ungewissen Weg ins fremde Amerika, wo dereinst alle Not ein Ende haben sollte. So hörte man dies zumindest von den Werbern für Auswanderer der damaligen Zeit.

Quellen: Fritz Späth, Wyhl am Kaiserstuhl - einst und jetzt.